„Geh ins Ausland!“
Diesen Satz hört man sehr oft, vor allem als sehr junger Mensch:
In der Schule, nach dem Schulabschluss, nach der Ausbildung, in der Universität.
„Mach ein Austauschjahr!“
„Geh als Au-pair Mädchen in die USA!“
„Mach ein Freiwilliges Soziales Jahr in Costa Rica!“
„Mach ein Erasmussemester in Bordeaux!“
Das Hauptargument, warum man das machen sollte?
- Bessere Berufschancen
- Interkulturelle Kompetenzen
- Eine andere Sprache lernen
Alles super für den Job und die Karriere!
Das mag alles ganz richtig sein.
Aber wie wirkt dieser Satz auf uns?
Menschen, die schon einen mehrsprachigen Background haben.
Die schon interkulturelle Kompetenzen haben, weil sie ständig zwischen Kulturen navigieren?
Man könnte sich sagen:
Eine andere Sprache? Sprech ich schon!
Interkulturelle Kompetenzen? Brauch‘ ich nicht! Hab ich alles schon!
In diesem Artikel schreibe ich Dir, warum es gerade für binationale oder Menschen mit
mehrkulturellem Background so wichtig ist, ins Ausland zu gehen,
auf neutralem Boden zu sein,
in einer komplett anderen kulturellen Umgebung zu leben.
Wenn wir nur in den Ländern gelebt haben, die unsere sind,
oder hauptsächlich nur in einem Land gelebt haben, das unseres ist,
dann ist uns vieles nicht klar.
Manchmal tendiert man das andere Land, in dem wir nicht leben, zu idealisieren.
Manchmal interpretieren wir bestimmte Verhaltensweisen an uns selbst als kulturell bedingt.
Oft hört man folgende Sätze von mehrkulturellen Personen:
„Ich fühle mich eher Englisch- oder eher Deutsch“ (was ich über eine Kultur fühlen denke, könnt Ihr hier in meinem Video sehen).
„So wie die Leute hier sind, so bin ich nicht.“
„Ich bin anders.“
Wenn man aber in ein anderes Land geht, um dort eine Zeitlang zu leben,
das komplett fremd ist,
nicht das eigene Zuhause ist, lernt man sich richtig objektiv kennen.
Dann merkt man erst, wie stark uns unsere eigenen jeweiligen Kulturen geprägt haben.
Man merkt, dass man anders kommuniziert.
Man merkt, dass bestimmte Wörter und Verhaltensweisen anders interpretiert werden.
Man muss die gesamte Landesstruktur erstmal neu kennenlernen.
Man weiß bei Problemen nicht so richtig weiter, weil man sich nicht auskennt.
Oft stellen sich Dinge heraus, die wir nie für möglich gehalten hätten.
Ein Beispiel?
Meine Freundin Miriam ist in England aufgewachsen.
Ihre Eltern sind Jahre vor ihrer Geburt aus Ägypten nach England ausgewandert.
Miriam hat sich jahrelang in England als „Ägypterin“ ausgegeben. Überall!
Obwohl sie nie in Ägypten gelebt hat, hat sie zuhause die Kultur und Rituale ihrer Eltern gelebt.
Sie hat ebenfalls Arabischunterricht erhalten, und spricht es perfekt.
Als sie nach Spanien gezogen ist, (und nun dort mittlerweile seit 3 Jahren lebt)
ist ihr bewusst geworden, wie stark Englisch sie sozialisiert worden ist,
wie stark ihr Verhalten, ihre Kommunikationsweise und ihr Denken von der englischen Kultur geprägt sind.
Bei der Arbeit wurde ihr oft gesagt: Du bist so Englisch!
Sie merkt, dass Arbeitskollegen um sie herum, die Leute in Katalonien, ihre beiden Kulturen an sie wahrnehmen.
Jetzt hat sich etwas in ihrem Selbstbild geändert.
Warum ist das nun so?
Um das zu erklären, müssten wir folgendes betrachten:
Wir Menschen stellen immer ein Bild von uns her.
Wie?
Wir denken über uns nach, über unsere Handlungen und Erfahrungen.
Wir thematisieren uns.
Wir schauen, wie wir bei anderen ankommen, passen uns an, kontrollieren unser Verhalten
und korrigieren es zur Not.
Wir sind abhängig von den Meinungen anderer und den Normen und Regeln der Gesellschaft.
Wir bauen unsere Identität in Wechselwirkung mit der Gesellschaft auf in der wir leben.
Wenn wir nun in einer Gesellschaft leben, die uns als „fremd“ ansieht, oder als „fremd“ empfindet,
wie sehen wir uns dann selbst?
Als Fremde in der Gesellschaft, natürlich.
Was wir allerdings vergessen, ist, dass unsere ganze Sozialisation in dieser Gesellschaft stattfindet.
Oder stattgefunden hat.
In der Gesellschaft, in der wir leben.
Wir sehen es aber nicht so richtig- da wir auch gelernt haben, darin zu funktionieren.
Wir sehen nur den Teil, der anders ist.
So wie alle anderen.
Und identifizieren uns noch mehr damit.
Wenn wir nun in ein komplett anderes Land gehen, dann beginnt sich unser Selbstbild zu ändern.
Dort sind wir komplett fremd.
Eine neue Reflektion über uns selbst kann stattfinden.
Unsere beiden Kulturen (England und Ägypten im Beispiel) sind nun im neuen Land komplett fremd.
Alles ist anders.
Das ist eine ganz neue Erfahrung.
Man merkt, man ist viel mehr vom Land geprägt, indem wir schon immer lebten, als wir dachten.
(England, in Miriams Beispiel).
Der komplette Blick von außen
macht uns bewusst, was unser kulturelles ICH ist,
von welchen Kulturen wir geprägt sind.
Und lässt es uns leichter akzeptieren, dass wir aus mehreren Kulturen sind,
nimmt uns den Druck heraus, sich für eine Kultur entscheiden zu müssen.
Wir leben ja dann in einer dritten Kultur.
Und diese beginnt auch ein Teil von uns zu werden.
Ich lege jedem ans Herz in ein komplett fremdes Land zu gehen.
Nicht nur wegen der Sprache, der Fähigkeit sich neu zu orientieren, besondere Erlebnisse zu machen
Erfahrungen für den zukünftigen Superjob zu machen,
sondern um sich und seine inneren kulturellen Konflikte zu lösen,
und glücklich darüber zu sein, aus verschiedenen Kulturen zu bestehen!
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